Pflegekräfte: Warum die Hoffnung auf Rückkehrer und Aufstocker realitätsfern ist

9. Mai 2022 | Autor: Christoph Lixenfeld

Eine aktuelle Studie will uns weismachen, dass bei besseren Arbeitsbedingungen 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte mehr zur Verfügung stünden als aktuell. Warum diese Milchmädchenrechnung realitätsfern ist – und warum es sich für Teilzeitkräfte gar nicht lohnt, ihre Arbeitszeit aufzustocken.

© Andrea Kueppers

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Würden sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern, stünden mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte mehr zur Verfügung. So das Ergebnis einer Umfrage der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer Saarland und des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen, über die in den zurückliegenden Tagen viele Medien berichteten.
An der Studie hatten im vergangenen Jahr rund 12.700 Aussteiger aus der Pflege oder in Teilzeit Beschäftigte teilgenommen. Die genannte Zahl von 300.000 Vollzeitkräften errechnet sich dabei aus 263.000 potentiellen Rückkehrern in den Beruf und 39.000 Teilzeitkräften, die ihre Arbeitszeit aufstocken könnten. Wobei ein besonders optimistisches Szenario der Studie von noch deutlich höheren Zahlen ausgeht.

Die Systemschwächen der Pflege verschwinden nicht über Nacht

Diese Ergebnisse sind aus meiner Sicht reines Wunschdenken, das weit ab ist von jeder Realität. Und diese Realitätsferne liegt auch an der Machart der Studie. Denn deren MacherInnen gaben den Befragten zur Vervollständigung des Satzes „Ich pflege wieder, wenn…“ genau jene Dinge vor, die Beschäftige in diesem Beruf seit Jahrzehnten vermissen. Die Skala reichte vom fairen Umgang unter KollegInnen über wertschätzende und respektvolle Vorgesetzte und bedarfsgerechte Personalbemessung bis zu mehr Zeit für menschliche Zuwendung, verbindlichen Dienstplänen und einer vereinfachten Dokumentation.
Sind solche Bedingungen erfüllt, dann könnte sich die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten und sogar 60 Prozent der Ausgestiegenen ein Aufstocken beziehungsweise eine Rückkehr vorstellen, so die Studie.
Wenn wir also den Pflegejob von sämtlichen Fehlern und Systemschwächen befreien und zudem einige Hunderttausend Mitarbeiter herbeizaubern, dann kehren auch die Geflüchteten zurück – und alle Teilzeitkräfte wollen eine Vollzeitstelle. So in etwa ließen sich die Kernaussagen der Studie zusammenfassen.

Radikale Veränderungen sind für Pflegekräfte nicht in Sicht

Diese Hypothese ist ungefähr so sinnvoll und hilfreich wie die Annahme, dass wir eine gute Chance hätten, den Klimawandel aufzuhalten, wenn ab kommendem Jahr sämtliche Berufspendler weltweit ausschließlich das Fahrrad benutzten.
Auch die Pflege ist kein Wunschkonzert. Um die genannten Bedingungen – wertschätzende Vorgesetzte, bedarfsgerechte Personalbemessung, Zeit für menschliche Zuwendung etc. etc. – zu erfüllen, müssten wir das „System Pflege“ in Deutschland radikal verändern. Aber eine solche Revolution ist nicht in Ansätzen sichtbar. Weil es am politischen Willen dazu fehlt – und weil an den vorhandenen Missständen viele Akteure viel zu gut verdienen.

Vernichtendes Urteil über die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte

Und unter den herrschenden Bedingungen wollen Pflegekräfte keineswegs mehr arbeiten als sie es bisher tun. Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2019 kann sich nur jede achte von ihnen vorstellen, die Arbeitszeit aufzustocken. Das sei „ein vernichtendes Urteil über die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten“, schrieb der Tagesspiegel dazu. Außerdem spricht das Ergebnis Bände darüber, wie sich diese Bedingungen entwickelt haben. Denn bei der gleichen Umfrage aus dem Jahre 2016 konnte sich noch jede Vierte – also doppelt so viele – vorstellen, mehr zu arbeiten als bisher.

Mit Vollzeit nur 600 Euro mehr als ohne Arbeit

Als Grund, bei ihrer bisherigen Stundenzahl bleiben zu wollen, gaben die meisten an, die Belastungen bei Vollzeit seien ihnen zu hoch. Und es gibt noch ein weiteres, mindestens ebenso stichhaltiges Argument gegen das Aufstocken: Es lohnt sich finanziell nicht. Wie das Ifo-Instituts für die Bertelsmann Stiftung 2020 ausrechnete, bleibt sowohl bei Alleinstehenden als auch bei Alleinerziehenden und bei verheirateten ZweitverdienerInnen von einem Mehrverdienst traurig wenig übrig.
Pflegekräfte, die genau hinsehen, bleiben also bei Teilzeit. Wer es nachrechnen möchte, findet hier die Details dazu.
Und ein spannendes Beispiel dafür, wie es in einem Modellversuch gelingt, mehr Pflegekräfte zu gewinnen, indem Krankenhäuser und Pflegeheime gezielt auf Teilzeit setzen – und damit auf das exakte Gegenteil dessen, was die eingangs zitierte Studie empfiehlt.  

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