Mehr Teilzeitstellen als Mittel gegen die Personalnot

28. Dezember 2021 | Autor: Christoph Lixenfeld

Die Politik hatte der Branche empfohlen, möglichst allen MitarbeiterInnen Vollzeitstellen anzubieten, um den Personalmangel zu lindern. Warum in der Pflege in Wahrheit der entgegengesetzte Ansatz – also die Förderung der Teilzeit – erfolgversprechender ist.

© Exarchlzain https://bit.ly/32Wu075

Teilen

In der Pflegebranche ist der Frauenanteil mit über 80 Prozent besonders hoch – und damit auch der Anteil der Minijobberinnen und Teilzeitkräfte. Würde zumindest ein Teil von ihnen vollzeit arbeiten, bräuchten Heime und Pflegedienste nicht so verzweifelt nach zusätzlichen Kräften zu suchen, so eine seit Jahren angestellte Milchmädchenrechnung – für die vor allem die Politik wirbt.
Der Abschlussbericht der „Konzertierten Aktion Pflege“, einer Initiative von drei Bundesministerien, empfahl den Arbeitgebern der Branche schon im Juni 2019, nach Möglichkeit allen ihren MitarbeiterInnen Vollzeitstellen anzubieten.

„Vernichtendes Urteil über die Arbeitsbedingungen“

Das Problem dabei: Pflegekräfte wollen gar nicht mehr arbeiten. Wie eine Umfrage ergab, kann sich nur jede achte von ihnen vorstellen, ihre Arbeitszeit aufzustocken. Das sei „ein vernichtendes Urteil über die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten“, schrieb der Tagesspiegel dazu.
Außerdem spricht das Ergebnis Bände darüber, wie sich diese Bedingungen zuletzt entwickelt haben. Denn bei der gleichen Umfrage aus dem Jahre 2016 konnte sich noch jede Vierte – also doppelt so viele – vorstellen, mehr zu arbeiten als bisher. 

Mit Vollzeit nur 600 Euro mehr als ohne Arbeit

Als Grund, bei ihrer bisherigen Stundenzahl bleiben zu wollen, geben die meisten an, die Belastungen bei Vollzeit seien ihnen zu hoch. Und es gibt noch ein weiteres, mindestens ebenso stichhaltiges Argument gegen das Aufstocken: Es lohnt sich finanziell nicht. Wie eine Studie des Ifo-Instituts für die Bertelsmann Stiftung aus dem Jahre 2020 ergab, bleibt sowohl bei Alleinstehenden als auch bei Alleinerziehenden und bei verheiratete ZweitverdienerInnen von einem Mehrverdienst traurig wenig übrig.
Dazu ein paar ernüchternde Zahlen: Alleinstehenden, die aus ihrem Minijob eine Vollzeitstelle machen, bleiben von zehn Euro brutto mehr lediglich 2,50 bis 3,90 Euro netto.
Alleinerziehende mit zwei Kindern hätten bei einem Fulltimejob – verglichen mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II – monatlich lediglich ca. 600 Euro zusätzlich im Portemonnaie.

Nur 74 Euro mehr bei Teilzeit statt Minijob

Noch demotivierender fallen die Zahlen für verheiratete Zweitverdiener(Innen) aus: Verdient der eine Partner 48.000 Euro im Jahr – so rechnet das Ifo-Institut vor – und stockt seine Partnerin von einem Mini- zu einem Teilzeitjob auf, arbeitet also doppelt so viel, dann hat sie netto am Ende des Monats sage und schreibe 74 Euro mehr (bei 10 Euro Stundenlohn).  
Das bedeutet, dass sich für Alleinstehende und für verheiratete ZweitverdienerInnen mehr als ein Minijob finanziell eigentlich gar nicht und für Alleinerziehende kaum lohnt.

Die Ungerechtigkeit trifft vor allem Frauen

Ursache für diese absurde Situation ist laut Ifo-Forscher Andreas Peichl ein „fatales Zusammenwirken von Steuern, Abgaben und dem Entzug von Sozialleistungen.“ Im Falle der Verheirateten mindert vor allem das Ehegattensplitting den Zuverdienst wie beschrieben.
In der Praxis trifft diese Benachteiligung vor allem Frauen: Von 7,6 Millionen Ehefrauen im Erwerbsalter haben sechs Millionen ein geringeres Einkommen als ihr Mann – und sind demnach ZweitverdienerInnen. 
Ifo-Forscher Andreas Peichl findet all das „nicht gerecht, und es ist kein Anreiz insbesondere für Frauen, mehr zu arbeiten, obwohl jetzt die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in die Rente gehen.“ Seiner Ansicht nach muss „dieser Systemfehler beseitigt werden. Die Arbeitsbevölkerung schrumpft, wir brauchen bald jede Hand an Deck.“

Appelle werden nichts nützen, mehr Teilzeit schon

Selbst wenn die Ampelkoalition wie angekündigt das Ehegattensplitting reformiert und sich ein Fulltimejob für Frauen dadurch mehr lohnt, werden die Allermeisten in der Branche weiterhin in Teilzeit arbeiten wollen. Hinzu kommt, dass bis zur Umsetzung einer solchen Reform noch – mindestens – viele Monate ins Land gehen und die Personalnot ja schon heute dramatisch ist in der Branche.
Um sie zu lindern, sollte die Politik statt Appellen zur Aufstockung von Arbeitszeiten lieber den Realitäten der Branche ins Auge blicken. Das gelingt einem Modellversuch in Landshut, an dem 34 Krankenhäuser und Pflegeheime aus der Region teilnehmen. Angeboten wird eine vierjährige Teilzeitausbildung zur Pflegefachkraft, die sich vor allem an junge Mütter wendet, indem sie mit ihren 25 Wochenstunden eine parallele Kinderbetreuung ermöglicht.
Auch die Schicht- und Arbeitszeitmodelle orientieren sich an den individuellen Bedürfnissen der Auszubildenden, „damit sich die Leute nicht verbiegen müssen“ , wie eine am Projekt beteiligte Pflegedienstleiterin betont.
Der Ansatz soll den Zugang zur Ausbildung leichter und den Pflegeberuf insgesamt attraktiver machen. Aktuell absolvieren 18 Frauen die Ausbildung in Teilzeit. Viele von ihnen hätten den Schritt in die Pflege in Vollzeit nie gewagt. Schon im April 2022 werden in Landshut die nächsten Auszubildenden einsteigen. Bleibt zu hoffen, dass das Modellprojekt bundesweit möglichst viele Nachahmer findet. Teilzeit ist in der Pflege das beliebteste Arbeitszeitmodell – und wird es bleiben. Höchste Zeit, dass auch die Politik diese Tatsache anerkennt und sich daran orientiert.

Teilen