Warum die Heimaufsicht gar nicht funktionieren kann

3. März 2022 | Autor: Christoph Lixenfeld

Recherchen des „Team Wallraff“ hatten jüngst schwerste Missstände in Heimen sichtbar gemacht – unter anderem in Augsburg. Dort hatte auch die Heimaufsicht komplett versagt. Warum dieses Versagen systembedingt ist.

© Andrea Kueppers

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Das Fernsehen lieferte erneut genau jene Bilder, an die wir uns im Zusammenhang mit Pflege schon fast gewöhnt haben: mangelnde Hygiene, vernachlässigte alte Menschen, verdreckte Zimmer, hilfloses Personal. Das „Team Wallraff“ hatte vier privatwirtschaftlich geführte Pflegeheime undercover besucht und dort gedreht – und dabei auch das Totalversagen der Heimaufsicht demonstriert.
Was dabei offenkundig wurde, ist im Grunde nur die Logik jenes Geschäftsmodells Altenpflege, das mit der Erfindung der Pflegeversicherung über Deutschland hereingebrochen war: Die alten Menschen werden so billig abgefertigt wie möglich, damit für den Heimbetreiber – und vor allem für die Investoren dahinter – so viel wie möglich übrigbleibt. Dabei funktioniert das Ganze betriebswirtschaftlich insofern anders als in anderen Branchen, als es einen Wettbewerb um den besten Service oder das umfangreichste Angebot in der Heimbranche nicht gibt. Wenn der Gast mit seinem Aufenthalt im Hotel nicht zufrieden war, dann sucht er sich beim nächsten Besuch in dieser Stadt ein anderes. Eine Heimbewohnerin zieht dagegen in aller Regel auch bei miesester Behandlung nicht in eine andere Einrichtung. Oder jedenfalls nicht aus freien Stücken.

Unter Pflegeheimen gibt es keinen funktionierenden Wettbewerb

Die Gründe dafür sind vielfältig. Erstens müsste diese Heimbewohnerin ihren Wunsch nicht nur äußern, sondern auch durchsetzen. Ohne Unterstützung durch Verwandte oder Freunde fällt das schwer. Viele Heimbewohner aber bekommen keinen Besuch, also kann sie auch niemand dabei unterstützen. Und wenn es noch Angehörige gibt, die gelegentlich vorbeikommen, ist die Sache auch nicht zwingend einfacher. Denn die Heime in den allermeisten Gegenden Deutschlands sind – zweitens – voll. Wer also kurzfristig einen neuen Platz sucht, findet häufig beim besten Willen keinen. Oder wenn, dann nur weit entfernt in der nächsten größeren Stadt – was den Verwandten eine längere Anreise zumuten würde. Deshalb raten diese häufig selbst dann davon ab, wenn es gute Gründe für den Heimwechsel gäbe.
Unter Pflegeheimen kann also von einem funktionierenden Wettbewerb nicht die Rede sein. Deshalb ist das Business für Investoren ja auch so interessant. Weil sich überall ohne großen Aufwand und fast ohne Risiko gutes Geld verdienen lässt.

Manche Pflegekräfte haben 200 Überstunden angesammelt

Und jene „Kollateralschäden“, die das „Team Wallraff“ uns erneut vor Augen geführt hat, nimmt die Gesellschaft – wenn auch missbilligend – in Kauf. Wie sonst wäre es erklären, dass zwar nach jedem neuen Pflegeheimskandal eine Welle der Empörung durchs Land schwappt inklusive neuer Expertengutachten und Runder Tische – unterm Strich aber alles beim Alten bleibt.
Ein Grund dafür ist sicher auch, dass jene Akteure, die nahe dran sind am Geschehen und deshalb etwas verändern könnten, stillhalten – oder sogar am Vertuschen mitwirken.
Da sind zunächst die Pflegekräfte, die auch in den vom Team Wallraff vorgeführten Häusern den Irrsinn Tag für Tag miterlebten – ohne sich dagegen aufzulehnen. Für mein Buch hatte ich über dieses Thema mit Armin Rieger gesprochen. Der Autor des Buches „Der Pflege-Aufstand“, war mehr als achtzehn Jahre lang Geschäftsführer eines Pflegeheims in Augsburg. Als er diesen Job im Jahre 2000 quasi über Nacht antrat, sah sich Rieger mit einer ihm bis dahin unbekannten „Art des Denkens und Handelns konfrontiert. Die Pflegekräfte im Heim waren anders als alle anderen Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte.“ Viele hätten ein Helfersyndrom, opferten sich auf, erledigen „in fast schon masochistischer Demut ihre Arbeit bis zur Belastungsgrenze – und darüber hinaus.“
Rieger lernte Pflegekräfte mit 200 angesammelten Überstunden kennen. „Wer so viel arbeitet und entsprechend wenig Pausen hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann selbst krank. Was wiederum zu Überstunden bei den KollegInnen führt, die dann irgendwann auch krank werden … ein Teufelskreis.“

Wer sich auflehnt, wird trotz Personalnot schnell gefeuert

Doch damit nicht genug. Immer wieder beteiligen sich MitarbeiterInnen auch an systematischen Fälschungen der Pflegedokumentation. Andrea Würtz, die damals beim zuständigen Gesundheitsamt arbeitete, den Skandal in Schliersee mit aufdeckte und schließlich ihren Job kündigte, sagte dem Stern in einem Interview: „Es gibt Heime, da machen Fachkräfte morgens nichts anderes, als eine halbe Stunde lang Häkchen hinter Pflegetätigkeiten zu setzen, die sie gar nicht persönlich durchgeführt haben. Dokumentationsdienst heißt das dann.“
Und auch diejenigen, die bei dem Betrug nicht mitmachen, halten häufig den Mund. Denn wer sich auflehnt, wird trotz Personalnot schnell gefeuert, das ist in der Branche bekannt. Und lediglich zehn Prozent der Mitarbeiter von Heimen sind gewerkschaftlich organisiert.
Bei den jährlichen, turnusmäßigen Kontrollen durch die Heimaufsicht fallen Missstände deshalb oft nicht auf, weil diese Kontrollen vielerorts ziemlich oberflächlich sind. Häufig findet nicht einmal eine Plausibilitätsprüfung statt, ob die in den Unterlagen angegebenen Leistungen mit dem vorhandenen Personal rechnerisch überhaupt zu schaffen sind. Und auch wenn intensiver kontrolliert wird, folgen aus festgestellten Verfehlungen nicht zwingend Sanktionen. Das Pflegeheim in Schliersee erlebte 41 Prüfungen, Mängellisten entstanden – und trotzdem blieb es geöffnet.

Bei der Entscheidung, ob ein Heim geschlossen wird, geht es auch ums Geld

Ein Grund für solche in seinen Folgen verheerende Nachsicht liegt darin, dass die Schließung eines Heims für alle Beteiligten viel Arbeit und potentiell auch weiteres Leid mit sich bringt. Die Heimaufsicht muss die Entscheidung rechtfertigen, Kommunalpolitiker stehen vor der Aufgabe, neue Unterkünfte für die Betroffenen zu finden – was in den meisten Fällen schwierig ist, siehe oben. Am Ende wurden rund 20 Bewohner aus Schliersee ausgerechnet in das 130 Kilometer Augsburger Heim desselben Betreibers verlegt – bevor auch das schließen musste.
Die beiden Häuser des italienischen Konzerns Sereni Orizzonti gehörten zu den günstigsten in ganz Bayern – und das Heim in Augsburg hatte mit zusätzlichen Rabatten um Bewohner aus Schliersee geworben.
Der Verdacht liegt nahe, dass es bei der Entscheidung, ob ein Heim schließen muss, auch um Geld geht. In Bayern unterliegt die Heimaufsicht den Städten und Landkreisen – und die sind zugleich Sozialhilfeträger. Wird ein Haus mit sehr niedrigen Tarifen geschlossen und die Bewohner zum Umzug in ein teureres gezwungen, so müssen die Sozialämter zu dem, was die Pflegeversicherung übernimmt, mehr zuschießen. Die Versuchung, das billigere Heim so lange wie möglich offen zu halten, ist also groß.

Als die Pflegeversicherung nicht mehr zahlen wollte, ging es mit der Schließung plötzlich schnell

Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit dieses Verdachts ist die Tatsache, dass die Schließung des Heims in Schliersee plötzlich ganz schnell machbar war, nachdem die Pflegeversicherung verkündet hatte, sie werde für die Versorgung der Menschen in dieser Einrichtung ab sofort nicht mehr bezahlen. Was bedeutet hätte, dass bei so ziemlich allen Bewohnern das Sozialamt mit hohen Zuschüssen einspringen muss. Dann doch lieber Schließung und Umzug in ein Haus, in dem die Pflegeversicherung weiterhin einen Gutteil der Kosten übernimmt.
Dabei hatte das Landratsamt zuvor noch auf Studien verwiesen, die gezeigt hätten, dass bis zu einem Drittel der Bewohner eine Verlegung nicht überleben. Jetzt, nachdem die Pflegeversicherung sozusagen den Stecker gezogen hatte, war von einer Gefahr für die Bewohner durch den Umzug nicht mehr die Rede…

Resümee: Heimaufsicht wie wir sie kennen kann gar nicht wirksam funktionieren

Aus zwei Gründen. Den ersten benannte kürzlich Kerstin Celine, Abgeordnete der Grünen im Bayerischen Landtag: Gleichzeitig beraten, kontrollieren und sanktionieren zu müssen, das sei „eine quasi unmögliche Aufgabe.“
Der zweite Grund: Solange Heimaufsicht und Sozialhilfe in einer Hand liegen, ist die Versuchung immer groß, nicht im Dienste der betroffenen Menschen, sondern im Sinne der Haushaltslage von Kommune oder Landkreis zu entscheiden.
Wir erinnern uns: Das Pflegeheim Schliersee erlebte 41 Prüfungen mit unzähligen Beanstandungen und Mängellisten – und bliebt trotzdem geöffnet…

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