Zukunft der Pflege: Warum die DIW-Vorschläge nicht weiterhelfen

23. November 2023 | Autor: Christoph Lixenfeld

Um die Pflege von Menschen auch ohne Vermögen sicherzustellen, empfehlen die Wirtschaftsforscher den Ausbau der Pflegeversicherung und mehr professionelle Pflege. Warum der eine Ansatz ungerecht ist und der andere realitätsfern.

© DIW Berlin

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Seit der großen Reform des Jahres 2017 profitierten deutlich mehr Haushalte von den Leistungen der Pflegeversicherung, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung – DIW – in einer aktuellen Studie. Die Reform habe die Einkommenssituation der Betroffenen deutlich verbessert und damit ihre fachgerechte Betreuung erleichtert. Anders als bei den Einkommen gebe es aber bei den Vermögen nach wie vor große Unterschiede zwischen Pflege- und anderen Haushalten. Viele Pflegebedürftige hätten „langfristig keine ausreichenden finanziellen Rücklagen, um angesichts steigender Kosten dauerhaft über die Runden zu kommen“, so Peter Haan, Leiter der Abteilung Staat im DIW Berlin.

Die Finanzierung der Pflege braucht eine breitere Basis

Um die Situation gerade dieser Gruppe zu verbessern, empfehlen die Studienautoren den weiteren Ausbau der Pflegeversicherung – etwa durch die Kopplung des Pflegegeldes an die Inflationsrate – und mehr professionelle Pflege. Aus meiner Sicht ist die erste Empfehlung verteilungspolitisch ungerecht und die zweite realitätsfern.
Der Ausbau der Pflegeversicherung würde bedeuten, ihre Konstruktionsfehler zu perpetuieren. Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der alle etwas beitragen sollten. Deshalb ist es ungerecht, sie ausschließlich aus Beiträgen aus Arbeitseinkommen finanzieren zu wollen – und nicht auch über Abgaben aus Erbschaften, Mieteinnahmen oder Unternehmensgewinnen. Wollen wir die Finanzierung der Pflege auf eine breitere – und gerechtere – Basis stellen, dann müssen wir sie aus Steuern finanzieren.

Eine Bürgerversicherung ist der richtige Ansatz

Das DIW empfiehlt zur Deckung des wachsenden Finanzbedarfs der Pflegeversicherung einkommens- und vermögensabhängige private Zuzahlungen – ohne zu sagen, wie man diese genau ausgestalten sollte. Freiwillige Zusatzbeiträge können hier kaum gemeint sein. Verpflichtende „einkommens- und vermögensabhängige private Zuzahlungen“ sind nichts anderes als eine Art Steuer. Wenn man aber (an)erkennt, dass die bisherige Art der Finanzierung der Pflegeversicherung die Kosten nicht decken kann, dann sollten man auch den nächsten Schritt gehen und das gesamte System auf Steuerfinanzierung umstellen.
Darüber hinaus schlägt das DIW die Einführung einer Bürgerversicherung vor, also die Fusion von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung. Dieser Schritt würde das System fraglos finanziell entlasten. Erstens weil das Pflegerisiko von besser situierten Menschen – aktuell in der privaten Pflegeversicherung – deutlich geringer als jenes von ärmeren gesetzlich Versicherten. Und zweitens weil diese Menschen relative hohe Beiträge bezahlen – die dann in einer Bürgerversicherung allen zugutekommen. Der Vorschlag ist also ein Schritt in die richtige Richtung – der aber nicht groß genug ist, um weiter zügig wachsende Pflegekosten zu decken.

300.000 ambulant Pflegebedürftige mehr – pro Jahr

Das gilt erst recht, als das DIW auf eine weitere Leistungsausweitung der Pflegeversicherung setzt, was den Finanzbedarf weiter erhöht – vor allem angesichts der steigenden Zahl der LeistungsempfängerInnen. Allein in der ambulanten Pflege, so die Wirtschaftsforscher, dürften zu den zuletzt rund vier Millionen Personen jedes Jahr etwa 300.000 hinzukommen.
Um deren Versorgung sicherzustellen braucht es nach Ansicht des DIW „mehr professionelle Pflege.“ Der Staat verlasse sich hierzulande immer noch sehr stark darauf, „dass Angehörige die Pflege übernehmen“, sagt Johannes Geyer vom DIW. Das könne „angesichts unserer alternden Bevölkerung aber nicht ewig gut gehen.“ Familienangehörige müssten viel Zeit und Kraft für die Pflege aufbringen und könnten deshalb nicht erwerbstätig sein, was das Haushaltseinkommen schmälere. Und wenn doch, dann litten sie unter der Doppelbelastung und seien häufig überfordert.

Der Mangel an Pflegekräften wird bleiben

Richtig ist, dass Pflege durch Angehörige allein angesichts einer rapide alternden Gesellschaft mit immer weniger Jungen und vielen Kinderlosen die Situation nicht retten wird. Allerdings wird sich auch die Hoffnung auf immer mehr professionelle Pflege nicht erfüllen. Der Mangel an Pflegekräften ist mittlerweile so groß, dass Heime wegen fehlendem Personal ganze Etagen leerstehen lassen – oder gleich das Haus schließen müssen. Und das liegt längst nicht mehr in erster Linie an schlechter Bezahlung. Ausgebildete AltenpflegerInnen verdienen im Schnitt 23,75 Euro pro Stunde, selbst ungelernte Kräfte kommen auf 17,53 Euro. Gerade der verbindliche Pflegemindestlohn hatte die Einkommen zuletzt deutlich steigen lassen. Profis in ausreichender Zahl beschert uns diese Entwicklung weder aktuell noch in Zukunft. Weil die Beliebtheit oder Unbeliebtheit dieses Berufs nicht nur am Geld hängt.

Wir sollten pflegende Angehörige für ihre Arbeit bezahlen

Wirklich auflösen lässt sich dieses Dilemma – überforderte Angehörige und zu wenige Pflegekräfte – nicht. Aber wir könnten es lindern, indem wir ein System schaffen, in dem sich familiäre und professionelle Pflege gegenseitig ergänzen. Das kann gelingen, wenn wir pflegende Angehörige für ihre Arbeit bezahlen. Weil wir so die vom DIW monierte Schmälerung des Haushaltseinkommens durch unbezahlte Pflege ausgleichen und die damit verbundene Rentenlücke gleich mit. Weil sich die Lasten durch intelligente Pflegearrangements zwischen Profis und Angehörigen auf mehrere Schultern verleiten lassen. Und weil damit Leistungen von Frauen – es sind fast immer Frauen, die pflegen – die sie bisher (fast) unentgeltlich erbringen, nicht nur eine ideelle, sondern auch eine pekuniäre Anerkennung erfahren.
Darüber hinaus würde ein Lohnersatz für pflegende Angehörige noch weitere Probleme spürbar lindern. Welche, das steht hier.

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