Verpflichtende Pflegezusatzversicherung: zu kurz gesprungen

19. April 2023 | Autor: Christoph Lixenfeld

Der von den privaten Krankenversicherern (PKV) initiierte „Expertenrat Pflegefinanzen“ schlägt eine verpflichtende Zusatzversicherung vor, die pflegebedingte Eigenanteile von Heimbewohnern übernehmen soll. Die Idee hat durchaus Charme – aber einen entscheidenden Webfehler.

© Andrea Kueppers

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Geht es nach den Vorstellungen der PKV, dann bezahlen wir künftig alle neben der gesetzlichen auch in eine private Pflegezusatzversicherung ein. Diese sogenannte Pflege-Plus-Versicherung funktioniert nicht nach dem Umlageverfahren, sondern kapitalgedeckt, das heißt die Beiträge werden am Kapitalmarkt angelegt und dadurch verzinst. Sinn und Zweck des Vorschlags ist es, Betroffene bei den steil ansteigenden Kosten eines Heimaufenthalts zu entlasten.
Dazu müssten Menschen im Einstiegsalter von 20 Jahren monatlich 39 Euro einzahlen. Wer beim Start der Versicherung älter ist, zahlt bis zum 45. Lebensjahr schrittweise mehr ein. Ab diesem Alter bis zum Renteneintritt ist der Beitrag auf 52 Euro gedeckelt – die Hälfte davon trägt der Arbeitgeber.
Rentner, die ja keinen Arbeitsgeber haben, bezahlen nur noch 26 Euro, bekommen aber auch bei Heimaufenthalt deutlich geringere Leistungen aus der Versicherung als Jüngere. Mit zunehmendem Alter sollen diese generell schrittweise sinken: Bei 20jährigen bezahlt die Versicherung 90 Prozent der sogenannten pflegebedingten Eigenanteilen an den Heimkosten, bei 67jährigen nur noch 40 Prozent.
Weitere Details des Konzepts stehen in dieser Zusammenfassung.

Pflege zuhause kommt in dem Konzept nicht vor

Bereits während der Diskussion nach Vorstellung des Konzepts am 17.4. gab es deutliche Kritik daran – und erst recht am Tag darauf im Verlauf der medialen Diskussion. Dabei konzentrierte sich der Widerspruch im Kern auf vier Punkte. Erstens adressiere die Pflegezusatzversicherung nur die Versorgung im Heim – so ein Argument – obwohl mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause versorgt würden. Zweitens, so der Verband der Ersatzkassen, bliebe eine kapitalgedeckte Versicherung mit Altersrückstellungen vom Kapitalmarkt abhängig und damit hohen Risiken ausgesetzt. Drittens würde nach Ansicht von Grünen-Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink die Versicherung in der Pflege zu einer weiteren drastischen Verteuerung der Personalkosten führen. Und viertens schließlich „ist die finanzielle Belastung für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen schon heute sehr hoch“, so Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand. Die Antwort darauf könne nur „eine solidarische“ sein und keine, bei der zusätzlich privat vorgesorgt werden muss.

Die Angst vor dem Kapitalmarkt ist übertrieben

Stellt sich die Frage, wie die PKV-Pläne unabhängig von Eigeninteressen und Parteipolitik einzuschätzen sind. Als Antwort darauf möchte ich zunächst zwei positive Aspekte herausstellen. Der erste beschäftigt sich mit dem Prinzip der Kapitaldeckung als Alternative zum Umlageverfahren. Die Angst vor der damit verbundenen Abhängigkeit vom Kapitalmarkt halte ich für zumindest übertrieben – zumal wir mehrere Beispiele dafür kennen, dass und wie so etwas funktioniert. Das vermutlich bekannteste ist die verpflichtende kapitalgedeckte Prämienrente der Schweden. Hier können die Beitragszahler wählen, in welchen von mehreren hundert Fonds der Beitragsanteil für die Prämienrente investiert werden soll. Treffen sie keine Wahl, fließt das Geld in den staatlichen Standardfonds.
Natürlich spielt dieser Teil der Vorsorge im Gesamtsystem der gesetzlichen Altersrente nur eine untergeordnete Rolle – und er erlebte in puncto Verzinsung durchaus bessere und schlechtere Jahre. Unterm Strich aber ist das Konstrukt unbedingt ein Erfolgsmodell.
Außerdem stellt sich die Frage, ob eine Abhängigkeit vom Kapitalmarkt unbedingt riskanter und im Zweifel schmerzhafter ist als die Abhängigkeit von der Politik. Dass die keine Hemmungen hat, nach Gutdünken Mittel zu Streichen und zugesagte Reformen kurzfristig abzusagen, wenn die Verantwortlichen dies warum auch immer für opportun halten, hat das von Gesundheitsminister Lauterbach just verkündete Reförmchen mal wieder schmerzhaft gezeigt.

Freiwillige Pflegezusatzversicherungen funktionieren nicht

Langfristiges Denken und Planen lassen die mit jeder Geldanlage am Kapitalmarkt verbundenen Risiken – da sind sich alle Experten einig – deutlich sinken. Und was könnte langfristiger sein, als vom 20. Lebensjahr an Geld für die Pflege anzusparen?
Zweiter positiver – und noch wichtigerer – Aspekt ist die Tatsache, dass der PKV-Expertenrat die Zusatzversicherung verpflichtend machen will. Dass die freiwillige Variante einer solchen Versicherung nicht funktioniert, zeigt die traurige Geschichte des „Pflege-Bahrs“. Zwar schlossen einige Hunderttausend Menschen die Anfang 2013 eingeführte, staatlich geförderte Zusatzversicherung ab – aber hinter den damit zu Beginn verbundenen Erwartungen und Hoffnungen blieb der Zusatzschutz weit zurück.
Eine Ursache dafür, dass auf freiwilliger Basis viel zu wenige Menschen eine solche Versicherung abschließen, ist, dass sich die Wenigsten mit 20 oder 30 Jahren Gedanken darüber machen, ob und inwieweit sie mit 80 hilfebedürftig sein werden. Weiteres Problem ist das Samariter-Prinzip staatlichen Handelns: Wer im Alter kein Geld für Pflegeleistungen hat, den unterstützt das Sozialamt – völlig unabhängig davon, ob er nicht vorsorgen wollte oder nicht vorsorgen konnte. Der Sozialstaat ist in der Rolle eines Samariters, er fragt nicht danach, ob Bedürftige seine Hilfe „verdient“ haben oder nicht. Und die potentiell Hilfebedürftigen wissen das.

Wozu braucht es dann noch die gesetzliche Pflegeversicherung?

Abgesehen von diesen positiven Aspekten der Pflege-Plus-Versicherung hat sie drei Webfehler, die dazu führen dürften, dass sie als Vorsorgeprodukt niemals das Licht des Versicherungsmarktes erblicken wird. Zusammenfassend gesagt ist die von den privaten Krankenversicherungen ins Leben gerufene Kommission unter Führung des Gesundheitsökonoms Prof. Jürgen Wasem von Uni Duisburg-Essen mit ihrem Ansatz schlicht zu kurz gesprungen.
Denn sich – erstens – ausschließlich mit den Heimkosten zu beschäftigen, weil hier die „pflegebedingten Leistungen“ genauer definiert sind und sich deshalb Kosten und Leistungen versicherungsmathematisch leichter gegenüberstellen lassen, blendet Pflegerealitäten und Bedürfnisse der Betroffenen weitgehend aus.
Zweitens: Die ohnehin schon als hoch wahrgenommenen Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung noch mit einer verpflichtenden Zusatzvorsorge zu toppen, wird sich politisch kaum durchsetzen lassen. Weil sich jedem und jeder sofort die Frage aufdrängt, wozu denn genau die vorhandene Pflegeversicherung dient, wenn sich ein Leben im Heim nur mithilfe einer weiteren Versicherung finanzieren lässt.
Im Kern handelt es sich eben auch bei „Pflege-Plus“ um das Herumdoktern an einem unheilbar Kranken (System). Konsequent und ein wirklich großer Wurf wäre der Vorschlag gewesen, die vorhandene Pflegeversicherung durch eine verpflichtende kapitalgedeckte Variante zu ersetzen. Wobei natürlich auch diese Idee keine Chance auf Umsetzung hätte.

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