24-Stunden-Pflege: Ein Gerichtsurteil wie ein Tsunami

29. Juni 2021 | Autor: Christoph Lixenfeld

Osteuropäischen Pflegekräften in Privathaushalten steht der Mindestlohn auch für Bereitschaftsdienste zu, so das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt am 24.6. Warum das Urteil trotz der öffentlichen Aufregung darum keine Überraschung ist – und warum es die nächste Bundesregierung massiv unter Druck setzt.

© Bundesarbeitsgericht
© Bundesarbeitsgericht

Teilen

Etwas unwillig hatte Gesundheitsminister Jens Spahn nach Verabschiedung der jüngsten „Pflegereform“ eingeräumt, dass sie natürlich „nicht alle Probleme löst“ und damit für die nächste Regierung auch „noch etwas zu tun“ gebe.
Diese Formulierung war schon vor dem Urteil eine ziemliche Verharmlosung – und ist es danach erst recht. Das Bundesarbeitsgericht hatte festgestellt, dass bei der 24-Stunden-Pflege in Privathaushalten durch Ost- oder Südosteuropäerinnen Bereitschaftszeiten genauso mit Mindestlohn zu vergüten sind wie Arbeitszeiten. Geklagt hatte eine Frau aus Bulgarien.
Wer sich an das Urteil hält, muss künftig zehn bis fünfzehntausend Euro monatlich für diese Tätigkeit bezahlen, Beträge, die für fast alle der geschätzt 300.000 betroffenen Familien in Deutschland unbezahlbar sein dürften.

Tsunami über Armageddon

Entsprechend aufgeregt fielen die Reaktionen aus. DGB-Bundesvorstandsmitglied Anja Piel bezeichnete das Urteil als „Paukenschlag“, Eugen Brysch, Vorstand bei der Deutsche Stiftung Patientenschutz sprach von einem „Tsunami für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind“, und für Verena Bentele vom Sozialverband Deutschland (VdK) droht jetzt sogar „das Armageddon der häuslichen Pflege“.
Die Erregung ist insofern verständlich, als die 24-Stunden-Pflege durch Osteuropäerinnen in Deutschland bisher als eine Art sozialpolitisches Ventil dient, dass den immensen Druck, der auf den betroffenen Familien und auf der Politik lastet, in gerade noch erträgliche Bereiche herunterregelt.
Politik, Gepflegte, ja unser gesamtes Sozialsystem profitiert seit vielen Jahren von dieser erwünschten Illegalität und hat sich entsprechend damit arrangiert. Versuche, hier mehr Legalität herzustellen – den bisher letzten machte Jens Spahn Ende 2020 – verliefen eher halbherzig und am Ende im Sande. Die aktuelle „Pflegereform“ spart das Thema mal wieder aus.

24-Stunden-Pflege in aktueller Form nicht legalisierbar

Unverständlich ist das insofern, als das Urteil zumindest für alle, die nah am Thema waren und sind, keine Überraschung sein konnte. Die Arbeitsrechtlerin Christiane Brors von der Uni Oldenburg – ich habe sie für mein Buch interviewt – weist seit langem darauf hin, dass die in Deutschland übliche 24-Stunden-Pflege in der heutigen Form nicht legal ist – auch nicht legalisierbar.
Zudem war der Spruch des Bundesarbeitsgerichts lediglich die Bestätigung des Urteils einer Vorinstanz. Im Sommer 2020 erstritt ebenjene bulgarisch Rund-um-die-Uhr-Betreuerin, die jetzt vor dem BAG Recht bekam, am Arbeitsgericht Berlin eine Lohnnachzahlung von mehr als 30.000 Euro. Im Vertrag der Frau hatte eine Arbeitszeit von 30 Wochenstunden gestanden. Das fanden die RichterInnen – gemessen an der erwarteten Leistung – unrealistisch und zudem „treuwidrig“, wenn zugleich eine umfassende Betreuung zugesagt wird.
Bereits in diesem Urteil stand, dass Bereitschaftsdienste wie Arbeitszeiten zu bezahlen sind, eine Auffassung, die das Bundesarbeitsgericht jetzt bestätigte.

Umzug ins Heim oder Schwarzarbeit

Darüber hinaus kann 24-Stunden-Pflege durch eine Person auch deshalb niemals legal sein, so Arbeitsrechtlerin Christiane Brors, weil das mit den in Deutschland vorgeschriebenen Ruhe- und Höchstarbeitszeiten unvereinbar ist. Den Job müssten sich mehrere Kräfte teilen, woraus sich das bereits angesprochene Honorar von unterm Strich zehn bis fünfzehn Tausend Euro pro Monat ergibt.
Pflegebedürftigen und ihren Familien, die solche Summen nicht stemmen können oder wollen bleiben zwei Möglichkeiten. Der oder die Betroffene zieht um ins Heim – wenn es einen Platz gibt. Oder man setzt bei der Pflege daheim konsequent auf Schwarzarbeit, die sich um die Regeln des deutschen oder des europäischen Arbeitsrechts nicht schert.

24-Stunden-Pflege: Politik zwischen Skylla und Charybdis

Auf Seiten der Politik sind beide Optionen höchst unerwünscht. Ein Leben im Pflegeheim ist nicht nur für die Betroffenen selbst unvergleichlich teuer, sondern vor allem auch für Steuersäckel und Pflegeversicherung. Noch mehr Heimneubauten und Heimbewohner würden die ohnehin schon hohen Ausgaben für Altenpflege steil ansteigen lassen.
Mehr schwarz arbeitende Frauen aus Ost- oder Südosteuropa in deutschen Privathaushalten wären zwar für den Finanz- und den Gesundheitsminister die kostengünstigere Lösung, sind aber ebenso wenig gewollt. Weil das den Sektor noch schwerer kontrollierbar machen würde, als er es ohnehin schon ist, und weil es das Systemversagen in der Pflege noch sichtbarer machen würde – inklusive Bildern von Polizeirazzien in Privathaushalten oder Prozessen gegen Bettlägerige.

Die Nerven liegen blank – seit Jahren

Wird also der Privathaushalt mit Pflegebedürftigen tatsächlich zum „Armageddon“ – wie von VdK-Präsidentin Verena Bentele befürchtet –, also zum Ort der „endzeitlichen Entscheidungsschlacht“, wie ihn der Apostel Johannes in der biblischen Offenbarung beschrieben hat?
Das ist natürlich übertrieben, aber die Wortwahl zeigt, wie sehr sich das Thema zur Verbreitung von Angst und Schrecken eignet – und wie wichtig die hunderttausendfach illegale Pflege in Privathaushalten durch Osteuropäerinnen für die Beruhigung all jener Nerven ist, die durch das Wissen um völlig untaugliche legale Strukturen in der Pflege seit Jahren blankliegen.

Kommende Bundesregierung muss Farbe bekennen.

Es wird erst die kommende Bundesregierung sein, die das ruckartig in unser aller Bewusstsein geurteilte Dilemma politisch auflösen muss. Und dabei ist es dann mit einem Pflegereförmchen wie dem aktuellen nicht getan.
Im Gegenteil: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zwingt die Verantwortlichen – wer immer das nach dem 26. September sein wird – dazu, Farbe zu bekennen und die tatsächlichen Kosten einer Bedarfsgerechten, an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihren Familien orientierten Altenpflege auf den Tisch zu legen.
Wie dieses Bekenntnis en Detail aussehen könnte, damit werde ich demnächst an dieser Stelle beschäftigen.

Teilen