Intensivpflegegesetz:
Übers Ziel hinaus

27. Juli 2020 | Autor: Christoph Lixenfeld

Dass bei der Intensivpflege künstlich Beatmeter daheim auch betrogen wird, ist bekannt. Jens Spahn will jetzt „Fehlanreize beseitigen“, zugleich die „Selbstbestimmung der Betroffenen“ stärken. Warum sein Gesetz dazu, das im Herbst in Kraft tritt, eine Mogelpackung ist und die wirklichen Missstände nicht beseitigt.

© Andrea Kueppers

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Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) ist durch den Bundestag, die Zustimmung des Bundesrats ist nicht notwendig. Auf den ersten Blick geht es darum, die Intensivpflege daheim besser zu kontrollieren und zu steuern – zum Wohle aller.
Anlass dazu gibt es. Da ist zunächst das Geld: Intensivpflegedienste rechnen pro Patient und Monat bis zu 25.000 Euro mit der Kasse ab, weil dieser Patient rund um die Uhr von besonders geschultem – und damit teurem – Personal versorgt werden muss.
Solche Summen wecken Begehrlichkeiten, zum Beispiel die von Betrügern. Es gab Fälle, in denen der Betreuer lediglich zwei- bis dreimal am Tag vorbeischaute, anstatt rund um die Uhr präsent zu sein. Oder es wird unterqualifiziertes Personal eingesetzt – gefälschte Ausbildungszeugnisse machen es möglich.
Je mehr Patienten in einer Wohnung versorgt werden, desto mehr lohnen sich diese Machenschaften. Besonders lukrativ sind deshalb Intensivpflege-WGs, in denen vier bis acht Patienten leben.
Mit dieser Art von Betrug habe ich mich auch in meinem Buch beschäftigt.

Es geht bei der Intensivpflege daheim
nicht um die Wünsche der Betroffenen

Natürlich hätte niemand etwas dagegen, solche Gaunereien abzustellen. Leider nur ist das gar nicht Sinn und Zweck des neuen Gesetzes. Sondern wenn der Bundesgesundheitsminister davon spricht, er wolle „Fehlanreize beseitigen“, dann scheint es ihm eher darum zu gehen, die – legale, nicht-betrügerische – ambulante Intensivpflege daheim so weit wie möglich in die Heime zu verlagern. Weil die Versorgung dort – in den allermeisten Fällen – günstiger ist für die Kassen.
Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man sich die Geschichte dieses Gesetzes ansieht. Laut seiner ersten Fassung hätten die Krankenkasse das Recht gehabt, den Patienten von zu Hause in eine stationäre Einrichtung zu verlegen – unter Umständen sogar gegen seinen Willen.
Nach massiven Protesten von Betroffenenverbänden und der Opposition im Bundestag stellte das schließlich verabschiedete Gesetz dann klar, dass den „Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung […] richten“ zu entsprechen ist, jedenfalls „soweit die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann.“

„Sachgerechte Allokation vorhandener Ressourcen“

Das Problem: „Tatsächlich“ und „dauerhaft“ sind unklare Rechtsbegriffe. Intensivpflege ist – bedauerlich genug – schon aus medizinischen Gründen häufig nicht auf eine lange Dauer angelegt. Sondern es geht in vielen Fällen schlicht darum, Schwerkranken ihre letzten Jahre oder Monate so angenehm wie möglich zu gestalten. Und das ist nicht nur die Auffassung des Autors dieser Zeilen, sondern sämtlicher Betroffenenverbände.

Ob das auch die Hauptintention von Jens Spahn für die neue Regelung ist, darf bezweifelt werden. Vor allem mit Blick auf die Erläuterungen des Gesundheitsministeriums zum Gesetz. Dort heißt es sehr offen, die Neuregelung bezwecke „auch eine sachgerechte Allokation vorhandener Ressourcen, um nicht zuletzt die besonders aufwändige Versorgung in der eigenen Häuslichkeit des Versicherten weiterhin ermöglichen zu können, ohne die Versorgung anderer Versicherter zu gefährden“. Im Klartext: ‚Der Normalfall bei Intensivpatienten ist die Versorgung im Heim. Nur wenn das absolut unzumutbar ist, wird weiterhin zuhause gepflegt‘.

Das System kontrolliert sich selbst

Die Entscheidung darüber fällt – zumindest auch – der MDK, der medizinische Dienst der Krankenversicherung. Das heißt, dass sich das System – wie in vielen anderen Bereichen der Pflege – selbst kontrolliert, medizinische und finanzielle Kriterien werden in unzulässiger Weise miteinander verknüpft. Das ist ungefähr so, als würde das Gehalt eines Arztes im Krankenhaus davon abhängen, welche Art der Behandlung eines Patienten er empfiehlt und durchführt.
(Ich bin mir darüber im Klaren, dass es – gerade im orthopädischen Bereich – einen solchen Zusammenhang durchaus gibt. Aber er ist eben auch hier nicht wünschenswert.)

Pflege WGs: Hohe Renditen bei kleinem Risiko

Der Verdacht, Jens Spahn wollte mit diesem Gesetz die Unterbringung von beatmeten Intensivpatienten im Heim befördern, ist mit Blick auf das Gesetz absolut zulässig. Was uns deshalb vermutlich bevorsteht, ist eine Reihe von Gerichtsverfahren, in den sich Betroffenen gegen ihre Zwangsumsiedlung wehren.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die vorhandene Landschaft der ambulanten Intensivpflege kann man durchaus kritisieren, die Frage stellen, ob sie das Geld unseres Sozialsystems nicht (auch) in die falschen Hände leitet. Und das gilt nicht nur für den illegalen Bereich. Für Intensivpflege-WGs zum Beispiel interessieren seit Jahren nicht nur Betrüger, sondern auch legal agierende internationale Investoren. Solches Interesse ist ein sicheres Zeichen für hohe Renditen bei niedrigem Risiko. Aktuell gibt es circa 1000 dieser Wohngemeinschaften in Deutschland, Tendenz stark steigend.

Ein Gutteil könnte wieder selbständig atmen lernen

Hier genauer hinzusehen und dabei die Frage zu stellen, ob alle WG-Bewohner wirklich beatmet werden müssen, könnte unsere Sozialkassen stark entlasten und zugleich die Selbständigkeit der Betroffenen stärken.
Das ein Gutteil von ihnen wieder selbständig atmen lernen könnte, darin sind sich Fachleute weitgehend einig. Eine Voraussetzung dafür wäre allerdings, das Anreizsystem auf diesem Markt zu verändern.
Doch darauf zielt das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) nicht ab. Leider.

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