Zurück in die 1960er Jahre: Was die FAZ für die Zukunft der Pflege empfiehlt

10. Juni 2021 | Autor: Christoph Lixenfeld

Sozialpolitik werde immer öfter mit Umverteilen und Geldausgeben gleichgesetzt, schreibt Dietrich Creutzburg in der FAZ. Das untergrabe die Bereitschaft zur Eigenverantwortung und damit die Grundlagen unseres Wohlstands. Der Text blickt auch auf die Pflegeversicherung. Mit einer Mischung aus Unkenntnis und blankem Zynismus. Eine Replik.

© Andrea Kueppers

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Es ist ja beileibe nicht das erste Mal, dass in der FAZ von der ach so guten alten Zeit geträumt wird, von einer, in der die Menschen ihre Brötchen noch brav selbst verdienten, anstatt bei Vater Staat die Hand aufzuhalten. Und in einem solchen Traum dürfen Exexexex-Bundeskanzler Ludwig Erhard und das Jahr 1963 nicht fehlen, in dem der Staat neunzehn Prozent der Wirtschaftsleistung für Soziales ausgab und nicht dreißig wie heute. Und natürlich zitiert der Autor auch Erhards Buch „Wohlstand für alle“ und seine Warnung vor dem „Versorgungsstaat“, der aus Bürgern „soziale Untertanen“ mache.
Ludwig Erhard und seine Mitstreiter hätten als Voraussetzung für diesen Wohlstand vor allem einen funktionierenden Wettbewerb gesehen und eben nicht einen Staat, der „möglichst viel Einkommen umverteilt“. Und ein solcher Staat – so Dietrich Creutzburg am 9. Juni in der FAZ – der „immer größere Teile der Einkommen der privaten Dispositionsfreiheit entzieht, bringt die Aussicht auf Wohlstand für alle selbst in Gefahr.“

Vermögensungleichheit wird immer größer

Diese These wird durch ständige Wiederholung nicht einleuchtender, ist es doch keineswegs der Staat mit seiner „Umverteilung“, der die Aussicht auf Wohlstand für alle schmälert. Sondern es ist erstens die banale Logik von Geldanlage, die den Unterschied zwischen nichtreich und reich immer weiter vergrößert. Wenn ein Mensch mit 100 Euro und einer mit 1000 Euro jeweils zehn Prozent Rendite erwirtschaften – beispielsweise an der Börse – dann steigt der Vermögensunterschied zwischen ihnen deutlich an. Hinzu kommt – wie das Handelsblatt am 10.6. mit Verweis auf eine aktuelle Studie berichtet – das reichere Haushalte auch prozentual höhere Renditen auf ihre Vermögen erzielen als ärmere, wodurch ihr Reichtum weiter steigt, weshalb ihre Renditen weiter steigen – und so weiter und so fort.
Das heißt die Vermögensungleichheit wird immer größer – und sie ist in Deutschland im europäischen Vergleich ohnehin schon mit am größten. Wobei letztere Feststellung nicht von mir stammt, sondern ebenfalls aus dem Handelsblatt.

Die Umverteilungswirkung ist kein Systemfehler

Außerdem sind Länder, in denen der Staat größere Teile der Einkommen in „privater Dispositionsfreiheit“ belässt – etwa die USA – vom „Wohlstand für alle“ noch deutlich weiter entfernt als Deutschland.
Im weiteren Verlauf des Artikels rechnet uns der Autor – auch diese Volte ist wohlbekannt – an einem Beispiel vor, wie staatliche Leistungen Menschen vom (Mehr)arbeiten abhalten. Um schließlich auf Rente, Kranken- und Pflegeversicherung zu sprechen zu kommen. Auch hier will uns die FAZ glauben machen, es handele sich bei der Umverteilungswirkung unserer Sozialsysteme um einen Systemfehler. Erneut wird die Vergangenheit bemüht und das hehre Subsidiaritätsprinzip, also der Grundsatz, dass der Staat nur helfend eingreifen sollte, wenn der Betroffene und sein persönliches Umfeld (Familie, Verwandte) dazu nicht in der Lage sind.

Es geht nicht um die „wachsenden Ansprüche von Versicherten und Pflegekräften“

Die Pflegeversicherung habe diesen Gedanken mit ihrem Teilkaskoansatz eigentlich hochhalten wollen – zumindest damals, bei ihrer Installation im Jahre 1995. Heute dagegen liefere sie geradezu ein Sinnbild dafür, wie „Politik sich von der sozialen Marktwirtschaft entfernt – von der Subsidiarität hin zum Versorgungsstaat.“ Schließlich seien die Pflegekassen leer, obwohl sich der Beitrag seit 1995 fast verdoppelt habe.
„Unter dem Einfluss wachsender Ansprüche von Versicherten und Pflegekräften an das anonyme Kollektivsystem hat sich der Kostenanstieg stark beschleunigt“, schreibt der Autor schließlich. Womit wir bei seiner Unkenntnis angekommen sind. Oder bei gezieltem Wegsehen? Natürlich sind die Kosten mitnichten durch „wachsende Ansprüche von Versicherten und Pflegekräften“ so stark gestiegen. Die allermeisten Versicherten und ihre Familien kennen ihre Ansprüche gegen die Kassen gar nicht gut genug, um alles zu bekommen, was ihnen zusteht. Was vor allem an der Undurchschaubarkeit eines sich ständig verändernden bürokratischen Monsters namens Pflegeversicherung liegt. Wer das ganze System aber sehr wohl durchblickt, das sind Pflegekonzerne und die oft hinter ihnen stehenden Investmentfirmen. Die werben zum Beispiel auf dem „Serviceportal für Best Ager, Senioren und Angehörige“ der FAZ mit „Sicherer Geldanlage durch demographischen Wandel“ – und mit Renditen von bis zu fünf Prozent durch „Mietsicherheit“.
Und für diese Mietsicherheit sorgt – genau – jene Pflegeversicherung, die mit ihrer als Wettbewerb getarnten staatlichen Zuteilung von Gewinnen diese Form der Geldanlage auf Kosten der Beitragszahler überhaupt erst möglich gemacht hat. Auf der Suche nach den Ursachen für den Kostenanstieg in der Pflege würde Autor Dietrich Creutzburg also eher auf der FAZ-Webseite fündig als bei den „Ansprüchen von Pflegekräften.“

Der Staat kann sich nicht aus der Lohnfindung raushalten

Womit wir beim Vorwurf des blanken Zynismus sind. Pflegekräfte zeichnen sich – das weiß jeder Heimbetreiber – in ihrer übergroßen Mehrheit dadurch aus, dass sie eben wenig bis keine Ansprüche stellen. Stattdessen leisten sie immer wieder – oft unbezahlte – Überstunden, um „ihre“ Bewohner nicht „im Stich zu lassen.“ Die Pflegebranche zieht leider überdurchschnittlich oft Menschen an, die nicht gut darin sind, sich zu wehren und auf ihre Rechte zu pochen und stattdessen aus Schüchternheit und Zurückhaltung eher den ‚unteren Weg‘ gehen. Und die aus exakt diesem Grund (viel zu) selten gewerkschaftlich organisiert sind.
Abwegig ist zunächst die Behauptung des FAZ-Autors, die Höhe der Mindestlöhne in der Pflege gefährde Arbeitsplätze. Ein Pflegeheim kann nicht, wenn das Personal zu teuer wird, einfach ein paar Leute entlassen. Denn erstens würden denen sehr schnell weitere freiwillig folgen, um sich dem wachsenden Druck zu entziehen. Und zweitens schreibt der Gesetzgeber einen bestimmten Personalschlüssel, also ein definiertes Verhältnis von Pflegenden zu Gepflegten, vor.
Um blanken Zynismus handelt es sich bei den Sätzen, Mindestlöhne „gefährdeten die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer, sich mit Mitteln der Tarifautonomie für angemessene Löhne einzusetzen“, und dass der Staat sich erst recht aus der Lohnfindung heraushalten sollte, wenn die Mehrheit der Beschäftigten in keiner Gewerkschaft sei.
Warum Zynismus? Weil das ja nichts anderes heißen kann als: ‚Sich mit Kleingeld abspeisen zu lassen, ist auch eine Form von Freiheit und Eigenverantwortung – und die sollten wir den Menschen nicht nehmen.‘

Versicherungsbeiträge schmälern Arbeitseinkünfte – und verschonen Vermögen

In Anbetracht seiner Sehnsucht nach Ludwig Erhard und den 1960er Jahren kann es nicht überraschen, dass Dietrich Creutzburg auch auf der Suche nach Zukunftslösungen weit zurückreist in die Vergangenheit. Er plädiert für eine „Basisversorgung zu beherrschbaren Kosten“ in Form von „Eigenverantwortung, flankiert von Sozialhilfe“. Man könne auch über „private Versicherungslösungen diskutieren, vielleicht mit freiwilliger (Teil-)Absicherung, vielleicht mit staatlichen Prämienzuschüssen für Kleinverdiener.“
Soll heißen: Weg mit der Pflegeversicherung. Auf den ersten Blick sollte mich dieser Ansatz begeistern, habe ich doch ein Buch geschrieben, das genau dies Vorschlägt. Trotzdem könnte der Unterschied zwischen meiner und Dietrich Creutzburgs Denke größer nicht sein.
Ich sage: Wir brauchen Netzwerke, gesponnen auf Gemeinde- und Kreisebene, die alte Menschen so gut es eben geht fit halten, und die sie nach individuellem Bedarf versorgen und pflegen, wenn ihre Kräfte nachlassen. Bezahlt aus Steuermitteln und nicht aus Beiträgen, die Arbeitseinkünfte schmälern und Vermögen zugleich verschonen. 

FAZ-Autor Dietrich Creutzburg sagt: Jeder soll sehen, wie er klarkommt, und wer sich Pflege gar nicht leisten kann, muss halt zum Amt. Für zuständig und verantwortlich erklärt er die Familien und ihr engstes Umfeld, Subsidiarität eben, ganz wie früher.

Mann braucht kein Frauenrechtler zu sein, um den Ansatz abzulehnen

Und ganz wie früher wären dann wieder in erster Linie die Frauen gefordert. Mann braucht kein Frauenrechtler zu sein, um diesen Ansatz abzulehnen. Denn er ist nicht nur ungerecht, sondern schlicht ein Denkfehler: Erstens stehen Frauen für die heimische Pflege der Eltern oder Schwiegereltern viel weniger zur Verfügung als in den 1990er Jahren, ihre Erwerbsquote ist in den zurückliegenden Jahren drastisch gestiegen. Und zweitens braucht Deutschlands Arbeitsmarkt spätestens ab Mitte der 2020er Jahre, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, jede Hand. Fehlen zu viele dieser Hände, weil sie zuhause unentgeltlich Angehörige pflegen, gehen Wirtschaftsleistung und damit Einnahmen des Staates in Form von Beiträgen und Steuern verloren. Will sagen: Am Ende wäre die von FAZ-Autor Dietrich Creutzburg vorgeschlagene Lösung die teuerste von allen.

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